19.06.2024 16:02:34 - dpa-AFX: ROUNDUP 2/Schuldensünder Frankreich: EU-Kommission startet Defizitverfahren

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BRÜSSEL (dpa-AFX) - Die Europäische Kommission leitet gegen Frankreich,
Italien und fünf weitere EU-Länder Strafverfahren wegen zu hoher Neuverschuldung
ein. Die sieben Länder wiesen ein übermäßiges Defizit auf, teilte die für die
Einhaltung von EU-Schuldenregeln zuständige Brüsseler Behörde am Mittwoch mit.
Auch Belgien, Ungarn, Malta, Polen und die Slowakei sind betroffen, gegen
Rumänien läuft bereits ein Verfahren. Deutschland steht in diesem Jahr kein
Ärger mit Brüssel ins Haus.

Für Aufmerksamkeit sorgt die Entscheidung vor allem wegen der politischen
Lage in Frankreich. Dort hatte Präsident Emmanuel Macron als Reaktion auf den
haushohen Sieg der Rechtsnationalen bei der Europawahl überraschend die
Nationalversammlung aufgelöst und Neuwahlen angekündigt. Der drohende Wahlsieg
der französischen Rechtsnationalen trieb die Renditen französischer
Staatsanleihen nach der Ankündigung nach oben.

Der CSU-Europaabgeordnete Markus Ferber begrüßte, dass die Kommission
dennoch nicht von der Eröffnung des Defizitverfahrens absieht. "Die Kommission
hat heute gezeigt, dass sie auch unbequeme Entscheidungen fällen kann."

Strafverfahren sollen solide Haushaltsführung bringen

Die sogenannten Defizitverfahren waren wegen der Corona-Krise sowie der
Folgen des russischen Angriffs auf die Ukraine zuletzt ausgesetzt. Wird ein
Verfahren eingeleitet, muss ein Land Gegenmaßnahmen einleiten, um Verschuldung
und Defizit zu senken. Damit soll vor allem die Stabilität der Eurozone
gesichert werden. Theoretisch sind bei anhaltenden Verstößen auch Strafen in
Milliardenhöhe möglich. In der Praxis wurden diese aber noch nie verhängt.

Ob sich das nun ändert, ist noch unklar. Nach den Krisen der vergangenen
Jahre erhole sich Europas Wirtschaft allmählich, gleichzeitig nähmen
geopolitische Spannungen zu, wirtschaftliche und soziale Herausforderungen
würden komplexer, sagte EU-Wirtschaftskommissar Paolo Gentiloni. Dass nun wieder
Strafverfahren eingeleitet würden, heiße aber kein zurück zur Normalität, "denn
wir leben nicht in normalen Zeiten". Ein Zurück zur Austerität, also eine
strenge staatliche Spar- und Haushaltskonsolidierungspolitik, "wäre ein
schrecklicher Fehler", sagte Gentiloni weiter. Im Fokus müsse unter anderem
weiter die Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit stehen.

Zwölf Länder halten Regeln nicht ein

Die EU-Kommission beaufsichtigt, ob die EU-Länder das Regelwerk für
Haushaltsdefizite und Staatsschulden, das auch Stabilitäts- und Wachstumspakt
genannt wird, einhalten. Es erlaubt eine Neuverschuldung von höchstens drei
Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP). Nach Angaben der Behörde haben zuletzt
zwölf EU-Staaten die Obergrenze für dieses Defizit im vergangenen Jahr nicht
eingehalten oder werden diese laut Prognose in diesem Jahr übertreten. Ihrer
Frühjahrsprognose von Mitte Mai zufolge rechnet die Kommission etwa damit, dass
Frankreichs Defizit im laufenden Jahr bei 5,3 liegt, das von Italien wird auf
4,4 beziffert. Für die Bundesrepublik werden 1,6 Prozent erwartet.

Dass nur gegen sieben Länder neue Verfahren eingeleitet wurden, liegt daran, dass bei der Entscheidung verschiedene Faktoren berücksichtigt werden. Dazu
gehört etwa, ob das Übertreten der Defizitgrenze nur sehr gering ist, aufgrund
besonderer wirtschaftlicher Umstände als außergewöhnlich gilt oder auch ob mehr
Investitionen in Verteidigung getätigt wurden.

Regelwerk kürzlich reformiert und umstritten

Der Stabilitäts- und Wachstumspakt wurde jüngst nach jahrelanger Debatte
reformiert. Grundsätzlich gilt aber weiterhin neben dem Defizitkriterium, dass
der Schuldenstand eines Mitgliedstaates 60 Prozent der Wirtschaftsleistung nicht
überschreiten darf. Während der Finanzkrise in den 2000er Jahren verstießen rund
20 Staaten gegen die Vorgaben, auch Deutschland hielt sich nicht immer daran.

Dennoch war es in der Vergangenheit teils auch eine politische Entscheidung, gegen welches Land ein Defizitverfahren eingeleitet wurde. So wurden
beispielsweise Frankreich und Deutschland, die Motoren der Staatengemeinschaft,
teils geschont - zulasten der Glaubwürdigkeit des Regelwerks.

Kritiker der Vorgaben betonen zudem, dass die Regeln nötigen Investitionen,
beispielsweise in Klimaschutz, die Luft abschnürten. Der grüne Europaabgeordnete
Rasmus Andresen monierte am Mittwoch: "Wenn die Länder, gegen die nun ein
Verfahren angestoßen wurde, die neuen Vorgaben zur Haushaltskonsolidierung
befolgen wollen, dann würden sie erheblich an Wirtschaftskraft verlieren." Das
würde der europäischen Wirtschaft nachhaltig schaden und zu einem Verlust der
Wettbewerbsfähigkeit führen.

Nächste Schritte

Nächster Schritt im Verfahren sind nun Stellungnahmen des Wirtschafts- und
Finanzausschusses, die innerhalb von zwei Wochen erfolgen müssen. Danach will
die Kommission Stellungnahmen abgeben, um das Bestehen eines übermäßigen
Defizits in den betreffenden Ländern zu bestätigen. Dann wird die Kommission im
Juli den EU-Finanzministern vorschlagen, Empfehlungen zur Defizitreduzierung für
die betroffenen Länder auszusprechen. Im November will die Behörde dann
länderspezifische Empfehlungen für einen Weg zur Korrektur des übermäßigen
Defizits abgeben. Um für solide Finanzen zu sorgen, muss jedes Land gemeinsam
mit der EU-Kommission einen mehrjährigen Haushaltsplan aufstellen./rdz/DP/ngu

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