19.06.2024 12:48:18 - dpa-AFX: POLITIK: Gesetz soll Strukturen gegen Kindesmissbrauch stärken

BERLIN (dpa-AFX) - Mit einem neuen Gesetz will die Bundesregierung
staatliche Strukturen im Kampf gegen Kindesmissbrauch stärken und Betroffene
stärker unterstützen. Pläne dafür hat das Bundeskabinett am Mittwoch in Berlin
auf den Weg gebracht. Menschen, die sexuelle Gewalt in der Kindheit erfahren
haben, sollen bei der Aufarbeitung mehr Hilfe bekommen, die Forschung zum Thema
soll ausgebaut und ein zuständiger Beauftragter oder eine Beauftragte des Bundes
per Gesetz dauerhaft eingesetzt und vom Bundestag künftig gewählt werden. Das
"Gesetz zur Stärkung der Strukturen gegen sexuelle Gewalt an Kindern und
Jugendlichen" aus dem Haus von Bundesfamilienministerin Lisa Paus (Grüne) muss
nun noch durch Bundestag und Bundesrat.

Schon heute gibt es zwar das Amt der "Unabhängigen Beauftragten für Fragen
des sexuellen Kindesmissbrauchs" (UBSKM). Die Stelle war nach dem sogenannten
Missbrauchsskandal 2010 eingerichtet worden, nachdem Fälle an renommierten
Bildungseinrichtungen wie dem Canisius-Kolleg und der Odenwaldschule öffentlich
geworden waren. Seitdem wurden die Beauftragten vom Bundeskabinett berufen. Ein
konkretes Gesetz dazu gab es bisher aber nicht. Die Ampel hatte sich in ihrem
Koalitionsvertrag vorgenommen, das zu ändern, um für den Posten eine dauerhafte
Grundlage zu schaffen. Die aktuelle Beauftragte, Kerstin Claus, wurde im März
2022 vom Bundeskabinett berufen.

Regelmäßiger Lagebericht und neues Forschungszentrum

Künftig sollen die Beauftragten regelmäßig einen Lagebericht vorlegen
- laut Gesetzentwurf einmal pro Legislaturperiode. Ein solcher
Bericht, der auf konkrete Missstände hinweist, kann dann Grundlage für
politische Entscheidungen sein. Neu entstehen soll daneben ein "Zentrum für
Forschung zu sexueller Gewalt an Kindern und Jugendlichen", dessen Ergebnisse in
den Bericht einfließen. Dem Amt der oder des Beauftragten sollen dem
Gesetzentwurf zufolge außerdem ein Betroffenenrat, der die Belange Betroffener
in den Blick nimmt, und eine Aufarbeitungskommission zur Seite gestellt werden,
die das Thema unter anderem auf Basis von Zeitzeugenbefragungen und
Betroffenenanhörungen untersucht. Auch diese Gremien gibt es heute bereits, aber
ebenfalls bisher ohne gesetzliche Grundlage.

Beratung und Akteneinsicht für Betroffene

Dauerhaft eingerichtet und finanziert werden soll zudem eine bundesweite
Anlaufstelle, an die sich Menschen mit Missbrauchserfahrungen wenden können. "Es
wird ein Beratungsservice finanziert, der geeignet ist, die individuelle
Aufarbeitung zu fördern und damit die Lebenssituation von Betroffenen zu
verbessern", heißt es im Gesetzentwurf. Auch hier geht es um eine gesetzliche
Verstetigung und dauerhafte Finanzierung von Angeboten, die in den vergangenen
Jahren bereits entstanden sind. So gibt es ein bei der Missbrauchsbeauftragten
angesiedeltes Hilfe-Portal im Netz und eine Hotline, an die sich Betroffene
wenden können.

Damit Erwachsene mit Missbrauchserfahrungen in der Kindheit ihre Geschichte
überhaupt aufarbeiten können, sollen sie künftig auch Akteneinsichts- und
Auskunftsrechte bekommen. Die Jugendämter werden den Plänen zufolge
verpflichtet, Betroffenen Einsicht in Erziehungshilfe-, Heim- oder
Vormundschaftsakten zu geben und Auskünfte zu erteilen. Zudem werden die Ämter
dazu verpflichtet, die Akten jahrzehntelang aufzubewahren.

Informationen für Kinderärzte und Familienrichter verstetigen

Das schon laufende Projekt "Medizinische Kinderschutzhotline", eine
Telefonnummer, an die sich Berufsgruppen wenden können, die regelmäßig Kontakt
zu Kindern und Jugendlichen haben wie Kinderärzte, Hebammen, Familienrichter
oder Jugendhilfe-Mitarbeiter, soll dauerhaft etabliert werden. Die genannten
Berufsgruppen können sich dorthin für eine Erstberatung wenden, wenn sie
medizinische Fragen und Fragen zum weiteren Vorgehen im Zusammenhang mit einer
möglichen Kindeswohlgefährdung haben. Daneben wird die Bundeszentrale für
gesundheitliche Aufklärung mit dem Gesetz verpflichtet, gemeinsam mit den
Bundesländern bundeseinheitliche Informationen und Medienangebote zur Prävention
zu entwickeln, um zum Beispiel Eltern für das Thema zu sensibilisieren. Die
Bundeszentrale soll außerdem Einrichtungen, die mit Kindern zu tun haben, bei
Schutzkonzepten unterstützen.

Tausende Missbrauchsfälle - Dunkelfeld viel größer

Mit Blick auf die Kriminalstatistik 2023 heißt es im Gesetzentwurf, es
bestehe gesetzgeberischer Handlungsbedarf: 18 500 von sexuellem Missbrauch
betroffene Kinder und Jugendliche im vergangenen Jahr, 16 000 davon zwischen
sechs und 14 Jahren und 2200 davon sogar jünger als sechs Jahre. Es wird
vermutet, dass das sogenannte Dunkelfeld "um ein Vielfaches" größer ist.
Dunkelfeldforschungen hätten gezeigt, dass etwa jeder siebte bis achte
Erwachsene in Deutschland sexuelle Gewalt in Kindheit oder Jugend erlitten habe,
unter den Frauen sei jede fünfte bis sechste Frau betroffen./jr/DP/mis

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