12.07.2024 12:09:18 - dpa-AFX: EM 2024/Chip im Ball, Fanpartys, Rumpelkicks: Was bleibt von der EM?

BERLIN (dpa-AFX) - Meckern nur noch als Kapitän, stimmungsvolle Fanmärsche
und für's Finale muss man nicht unbedingt großen Fußball zeigen: Bereits vor dem
großen Endspiel-Showdown zwischen Spanien und England zeichnen sich zentrale
Erkenntnisse der Europameisterschaft ab. Manches bleibt in Erinnerung, manches
hat womöglich konkrete Folgen auch für den Vereinsfußball. Was fiel auf und
bleibt vom Turnier in Deutschland? Eine Bilanz nach 50 von 51 Spielen:

Fußballfest

Vor dem Turnier waren die Bedenken groß: Ist ein Sommermärchen 2.0 möglich?
Entwickelt sich die EM zu einer großen Party vergleichbar mit der WM 2006? Auch
wenn die Zeiten damals andere waren und ein Vergleich schwer ist, kann man
festhalten: Ja, Fans aus ganz Europa machten das Turnier zu einer großen
Fußballfete.

Ob sangesfreudige Schotten, von links nach rechts hüpfende Niederländer oder frenetisch unterstützende Türken: Die EM bot in den Stadien und den Innenstädten
häufig den Fußball-Ausnahmezustand, den sich viele gewünscht hatten. Dabei blieb
es größtenteils friedlich. Einige Auseinandersetzung rivalisierender Fans gab
es, teils befürchtete große Gewalt-Exzesse wie bei einigen vergangenen Turnieren
blieben jedoch aus.

Zur insgesamt positiven Stimmung trug trotz des bitteren Ausscheidens im
Viertelfinale gegen Spanien auch die deutsche Nationalmannschaft mit engagierten
und mitreißenden Auftritten bei.

Sicherheit statt Offensivspektakel

Während das Team von Bundestrainer Julian Nagelsmann für seine offensive
Spielweise viel Lob erhielt, rumpelten sich einige Mitfavoriten durch das
Turnier. Manche bekamen dafür früh die Quittung wie die von Domenico Tedesco
trainierten Belgier, die im Achtelfinale rausflogen. Andere kamen mit einer auf
defensive Stabilität und Kontrolle ausgelegten Taktik weit.

Frankreich scheiterte erst im Halbfinale an Spanien, obwohl der Weltmeister
von 2018 auch davor kaum die Klasse seiner Stürmer um Ausnahmekönner Kylian
Mbappé einzusetzen wusste. England darf im Endspiel am Sonntag (21.00 Uhr/ARD
und MagentaTV) sogar vom ersten Titel seit 58 Jahren träumen.

Angesichts des Angriffs-Potenzials des teuersten EM-Teams um Bayern-Stürmer
Harry Kane und Champions-League-Sieger Jude Bellingham waren die teils
uninspirierten Auftritte der Three Lions erschreckend. Da es trotzdem fürs
Finale reichte, untermauerte die EM die These: Erfolgreicher Fußball muss nicht
unbedingt schöner Fußball sein.

Beschwerden nur vom Mannschaftskapitän

Nur als Kapitän zum Schiri: Diese neue Kommunikationsregel hat sich bei der
EM bewährt und soll in Zukunft auch im Vereinsfußball angewendet werden. Für die
Europapokal-Wettbewerbe legte die UEFA das bereits fest. Spieler, die sich nicht
daran halten, sollen mit einer Gelben Karte bestraft werden.

Auch in der Bundesliga könnte die Regel kommen, die unter anderem
Rudelbildungen vermeiden soll. Die Leitung der Spitzenreferees beim Deutschen
Fußball-Bund (DFB) will sich nach der EM dazu äußern. Die Regel hat allerdings
nicht nur Fans. So sagte Nationalspieler Robert Andrich vom deutschen Meister
Bayer Leverkusen zu einer angedachten Übernahme für die Bundesliga während des
Turniers bereits, dass er sie wahrscheinlich "eher nicht" begrüßen würde.

Bahn und Flugzeug

Die Pünktlichkeit - oder Unpünktlichkeit - der Deutschen Bahn gehört wohl zu den hierzulande beliebtesten Diskussions- und Meckerthemen. Bei der EM sorgten
nun Berichte vor allem ausländischer Fans und Medien über Zugpannen, überfüllte
Bahnsteige sowie zahlreiche Verspätungen im Fernverkehr für Aufsehen.

Bahnsprecherin Anja Bröker begründete Defizite unter anderem mit Mängeln an
der Infrastruktur und sagte der ARD während des Turniers: "Wir sind in der Tat
nicht ganz auf Höhe gewesen, unsere Verkehre bei der Europameisterschaft fuhren
nicht rund." Turnierdirektor Philipp Lahm kritisierte fehlende Investitionen in
die Infrastruktur.

Erst diese Woche musste das niederländische Team wegen eines kurzfristigen
Zugausfalls statt mit der Bahn per Flieger zum Halbfinale von Wolfsburg nach
Dortmund reisen. Andere Teams setzten ebenfalls auf Kurzstreckenflüge und
konterkarierten damit das Nachhaltigkeitskonzept des Turniers. "Das ist nicht
das Nachhaltigste, was man sich vorstellen kann", sagte Barbara Metz von der
Deutschen Umwelthilfe im ZDF.

Technik

Technik, die begeistert - oder auch nicht: Ein Chip im Ball, der anzeigt,
wann und wie stark das Spielgerät berührt wurde, hilft den Schiedsrichtern bei
der EM bei ihrer Entscheidungsfindung. Davon profitierte auch die deutsche
Nationalmannschaft im Achtelfinale gegen Dänemark. Eine Flanke von David Raum
hatte die Hand des Dänen Joachim Andersen im Strafraum gestreift.

Nach Ansicht der Videobilder entschied der englische Schiedsrichter Michael
Oliver auf Elfmeter, den Kai Havertz zum 1:0 verwandelte. Beim Videobeweis half
auch die neue Technik durch den Chip im Ball. Der frühere deutsche
Nationalspieler Michael Ballack kritisierte das Hilfsmittel dennoch scharf.
"Dieses Ausschlagding, was da angezeigt wird, das können wir gleich abschaffen",
sagte er bei MagentaTV. "Wir sollten immer noch nach Menschenverstand urteilen."

Auffällig waren zudem die im Gegensatz zur Bundesliga ausführlicheren
Erklärungen von VAR-Entscheidungen auf den Videowänden in den Stadien. Auch
3D-Animationen kamen dabei zum Einsatz.

Flitzer

Ein Selfie mit Cristiano Ronaldo: Mit diesem Ziel stürmten mehrere Fans bei
der EM auf den Platz und sorgten für verrückte Szenen. Besonders kurios wurde es
beim 3:0 der Portugiesen gegen die Türkei. Mehrmals sah sich der Superstar schon
während des Spiels mit Selfie-Jägern konfrontiert. Nach dem Abpfiff probierten
es weitere Anhänger.

UEFA-Wettbewerbschef Martin Kallen sprach zudem von Flitzern mit anderen
Motiven. Da sei zum Teil Kommerz im Spiel und es gebe Leute, die dafür bezahlen,
sagte er. "Sehr nervig" fand Kallen die Flitzer und sagte: "Man sollte ein
Fußballspiel durchspielen können. Aber wir haben damit gelebt und immer wieder
angepasst, dass wir immer weniger hatten."/the/DP/mis

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