11.07.2024 12:08:45 - dpa-AFX: Experten: Schaden an Kinderklinik passt zu russischer Rakete

BERLIN (dpa-AFX) - Die Ukraine und das UN-Menschenrechtsbüro machen einen
russischen Marschflugkörper vom Typ Kh-101 (auch Ch-101) für die schweren
Schäden an einem der wichtigsten Kinderkrankenhäuser Kiews verantwortlich. Doch
in sozialen Medien und durch die russische Regierung wird ohne Belege eine
andere Version verbreitet: Schuld soll die ukrainische Flugabwehr sein. Ist
wirklich so unklar, was an der Kinderklinik Ochmatdyt in Kiew geschah?

Behauptung

Eine ukrainische Flugabwehrrakete des Nasams-Systems ist nahe dem
Kinderkrankenhaus in Kiew eingeschlagen. Russland kann also nicht für den
Angriff verantwortlich sein.

Bewertung

Militärexperten widersprechen der Behauptung Moskaus: Derartige Zerstörungen könne eher ein russischer Marschflugkörper vom Typ Kh-101 anrichten. Ein solcher
ist zudem in Videos des Raketeneinschlags zu erkennen.

Fakten

In der ukrainischen Hauptstadt Kiew gab es am Morgen des 8. Juli mehrere
Raketeneinschläge. Auch ein Gebäude am Ochmatdyt-Kinderkrankenhaus im Nordwesten
der Stadt wurde getroffen, wie Fotos ukrainischer Behörden und unabhängiger
Journalisten zeigen. Deutlich ist der Teil-Einsturz eines Nebengebäudes zu
sehen. Die Wucht der Explosion beschädigte auch das etwas mehr als 50 Meter
entfernt stehende Y-förmige Hauptgebäude.

Viele Fenster und Teile der Verkleidung der etwa zehnstöckigen Fassade
wurden zerstört. Nach Einschätzung von drei Militärexperten passt dieser Schaden
nicht zu der Behauptung, hier sei eine Flugabwehrrakete eingeschlagen, wie sie
das ukrainische Nasams-Flugabwehrsystem verwendet.

Für das Nasams, ein von norwegischen und US-amerikanischen Rüstungskonzernen entwickeltes System, nutzt die Ukraine Flugabwehrraketen vom Typ AIM-120 AMRAAM.
Sie besitzen einen Gefechtskopf von etwa 20 Kilogramm Gewicht. "Die AIM-120
AMRAAM ist eine Flugabwehrrakete, die dafür gedacht ist, Flugkörper
abzuschießen. Der Gefechtskopf ist so designt, dass er neben dem Flugkörper
explodiert, sodass die Splitter diesen treffen", sagt Markus Schiller der
Deutschen Presse-Agentur. Der Experte für Raketentechnik lehrt an der
Universität der Bundeswehr zu Fernflugkörpern und forscht am schwedischen
Sipri-Institut, das unter anderem zur weltweiten Rüstung forscht.

Flugabwehrrakete verursacht geringere Schäden

Schillers Angaben zufolge durchlöchern die vielen Metallteile aus dieser
Flugabwehrrakete gewissermaßen ihr Ziel. Ein solches Phänomen sei an der Klinik
aber nicht sichtbar. "Wäre dort eine Flugabwehrrakete eingeschlagen, würde man
viele kleine Krater oder Vertiefungen durch die Splitter am Einschlagsort sehen,
kein halb eingestürztes Gebäude. Sie würde auch keine so große Druckwelle
erzeugen", sagt Schiller. "Das Schadensbild zeigt eindeutig den Einschlag von
etwas Größerem."

Zur gleichen Einschätzung kommt auch Fabian Hoffmann, der an Universität
Oslo zu Raketentechnik und Nuklearstrategie promoviert. Die Menge an
tatsächlichem Sprengstoff in einem 20-Kilogramm-Gefechtskopf eines AIM-120 sei
begrenzt. Dieser sei "niemals in der Lage, ein solches Ausmaß an Zerstörung zu
verursachen", sagt Hoffmann der dpa. Das Schadensprofil passe zu einem
Kh-101-Sprengkopf des russischen Marschflugkörpers, der insgesamt etwa 400 bis
450 Kilogramm wiegt.

Video zeigt Marschflugkörper kurz vor Einschlag

Vom Anflug der Rakete und dem Moment des Einschlags existieren mindestens
zwei verschiedene Augenzeugen-Videos. Dass aus leicht unterschiedlichen Winkeln
dieselbe Szene gezeigt wird, macht eine Manipulation äußerst unwahrscheinlich.
Über die Fassade des Kinderkrankenhauses lassen sich die Videos eindeutig dem
Ort des Angriffs zuordnen.

Die Beschädigung von Fenstern im mehrstöckigen Hauptgebäude, das etwa 50
Meter vom Einschlagsort der Rakete entfernt ist, ein großer Feuerball und eine
hohe Rauchfahne deuten nach Ansicht von Militärforscher Timothy Wright eher auf
die Detonation eines großen als eines kleinen Sprengkopfes hin. "Aufgrund dieser
Indikatoren ist es fast sicher, dass es sich bei der Rakete, die in das
Kinderkrankenhaus von Ohmatdyt einschlug, um eine russische Kh-101 und nicht um
eine ukrainische Nasams handelte", sagt der Wissenschaftler der Denkfabrik
International Institute for Strategic Studies (IISS) der dpa.

Sieht man sich einzelne Bildausschnitte des Videos vom Anflug der Rakete
genauer an, so ist am Heck ein dunkler, rechteckig wirkender Anbau zu erkennen.
Wright erklärt, worum es sich dabei handelt: "Auf dem Video ist auch deutlich
ein Motor unter der Raketenzelle zu sehen, ein Merkmal, das bei der Kh-101
vorhanden ist, nicht aber bei der Nasams, deren Feststoffmotor vollständig im
Gehäuse der Rakete untergebracht ist." Diese Beobachtung bestätigen neben den
anderen beiden Militärexperten auch Recherchen der Investigativ-Plattform
Bellingcat.

Eigenschaften passen nicht zu Flugabwehrrakete

Während die Flugabwehrrakete spitz wie ein Dartpfeil geformt sei, hat die
einschlagende Rakete aus den Videos eher die Silhouette eines abgerundeten
Torpedos - wie der Kh-101-Marschflugkörper. "Nasams erreicht außerdem ein
Mehrfaches der Schallgeschwindigkeit, während die Kh-101 viel langsamer ist, was
mit der Geschwindigkeit der Rakete in den Aufnahmen übereinstimmt", so Wright.

Auch das ukrainische Justizministerium hat Belege dafür veröffentlicht, dass eine russische Rakete das Krankenhaus getroffen hat. "Spezifische
Konstruktionsbesonderheiten der gefundenen Trümmerteile und entsprechende
typische Markierungen zeugen vom Einsatz eines strategischen Marschflugkörpers
des Typs Kh-101", heißt es aus dem Justizministerium. Es seien insgesamt mehr
als 30 Fragmente der Rakete gefunden worden, darunter Teile des Triebwerks und
der Flügel. Zuvor hatte der ukrainische Geheimdienst SBU Fotos von Trümmerteilen
einer Kh-101-Rakete vorgelegt./vvö/DP/mis

© 2000-2024 DZ BANK AG. Bitte beachten Sie die Nutzungsbedingungen | Impressum
2024 Infront Financial Technology GmbH