11.07.2024 07:30:04 - dpa-AFX: HINTERGRUND: Der Kalte Krieg ist zurück - Nato lässt Muskeln spielen

WASHINGTON (dpa-AFX) - Der entschlossenste Schritt des Nato-Gipfels von
Washington ist nahezu geräuschlos - und doch sicherheitspolitisch ein Knall:
Wegen der Bedrohung durch Russland werden die USA in Deutschland von 2026 an
wieder Waffensysteme stationieren, die weit bis nach Russland reichen. Darunter
sollen Marschflugkörper vom Typ Tomahawk sein, die technisch gesehen auch
nuklear bestückt sein können, Luftabwehrraketen vom Typ SM-6 und neu entwickelte
Hyperschallwaffen, die insgesamt weiter reichen sollen als bislang stationierte
Landsysteme.

Diese "fortschrittlichen Fähigkeiten" würden das Engagement der USA für die
Nato und ihren Beitrag zur gemeinsamen europäischen Abschreckung demonstrieren,
teilten die USA und Deutschland am Rande des Gipfels in nur drei Sätzen mit.

Verstärkte Anzeichen der Blockbildung

Zum 75. Geburtstag der Nato ist der Kalte Krieg zurück: Das Bündnis
verstärkt die militärische Absicherung Europas, weil die russische Führung um
Präsident Wladimir Putin den Angriffskrieg gegen die Ukraine nicht beenden will
und Maßnahmen der gegenseitigen Rüstungskontrolle aufgekündigt worden sind. Mehr
noch: Die Anzeichen für eine neue Blockbildung verstärken sich, wobei die USA
und Europa auf der einen Seite und China und Russland auf der anderen Seite um
Einfluss in der Welt ringen.

So verschärft die Nato auch ihren Ton gegenüber China und wirft der
asiatischen Großmacht entscheidende Beihilfe für Russlands Krieg gegen die
Ukraine vor. In der Abschlusserklärung des Gipfels werden die Unterstützung
Chinas für die russische Verteidigungsindustrie sowie die sogenannte grenzenlose
Partnerschaft als Beispiele genannt. "Dies erhöht die Gefahr, die Russland für
seine Nachbarn und die euro-atlantische Sicherheit darstellt", heißt es in dem
Dokument.

Bloß nicht schwächeln

Die Nato versucht dem Eindruck entgegenzuwirken, sie sei vom Ukraine-Krieg
ermüdet und durch Differenzen untereinander geschwächt. Die "Friedensmission"
des ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orban mit Besuchen in Moskau und
Peking wird von anderen Bündnispartnern als nicht ernstzunehmend abgetan. Selbst
der um seine Kandidatur bei der Wahl im November kämpfende US-Präsident Joe
Biden bekommt Rückendeckung von den Verbündeten.

Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) tritt betont selbstbewusst auf und macht
klar, dass Deutschland auch in schwierigen Zeiten seiner Verantwortung als
größte Volkswirtschaft Europas nachkommen wolle. "Deutschland ist das größte
Land in Europa innerhalb des Nato-Bündnisses. Daraus erwächst uns eine ganz
besondere Verantwortung", sagt er. "Und das kann ich hier ganz klar und deutlich
sagen: Wir werden, ich werde dieser Verantwortung gerecht werden." Solche klare
Töne sind eher selten von jemandem zu hören, der Deutschland am liebsten
bescheiden als "Mittelmacht" verkauft.

Dass nun auf deutschem Boden wieder US-Waffen stationiert werden sollen, die Russland treffen können, ist für ihn aber nicht ohne Brisanz. Die Furcht, dass
man dadurch selbst zum Ziel russischer Waffen werden könnte, ist in Deutschland
einigermaßen weit verbreitet. Es gibt außerdem nicht wenige in der SPD, die der
Meinung sind, dass schon die Erlaubnis eines Einsatzes westlicher Waffen gegen
militärische Stellungen auf russischem Territorium zum Desaster der SPD bei der
Europawahl beigetragen hat.

US-Wahl birgt Ungewissheit

Die deutsche Innenpolitik stellt im Vergleich zur amerikanischen allerdings
derzeit kein ernstzunehmendes Risiko für die Nato dar. In den Vereinigten
Staaten steht im November die Präsidentschaftswahl an und die Rückkehr von
Donald Trump ins Weiße Haus ist ein realistisches Szenario. Dass Trump das
Stationierungsvorhaben dann rückgängig macht, liegt zumindest im Bereich des
Möglichen. Der Republikaner hatte während seiner Amtszeit von 2017 bis 2021 eine
Reduzierung der US-Militärpräsenz in Deutschland eingeleitet, die später von
seinem Biden gestoppt wurde. Seit dem russischen Angriff auf die Ukraine
verstärkte der amtierende Präsident die US-Truppenpräsenz in Deutschland und
Europa sogar wieder.

Biden versichert immer wieder, die Vereinigten Staaten stünden unumstößlich
zu ihren Bündnispflichten in der Militärallianz und würden jeden Zentimeter von
Nato-Territorium verteidigen. Trump hingegen wetterte in seiner ersten Amtszeit
immer wieder über die seiner Ansicht nach zu niedrigen Verteidigungsausgaben von
europäischen Alliierten und drohte zeitweise sogar mit einem Austritt der USA
aus dem Bündnis.

Im Wahlkampf sagte Trump, er wolle Nato-Ländern, die ihren finanziellen
Verpflichtungen nicht nachkämen, keinen amerikanischen Schutz mehr gewährleisten
- und ermutige Russland geradezu, mit ihnen "zu tun, was auch immer zur Hölle
sie wollen".

Trumps Äußerungen lassen nicht darauf schließen, dass er ein Interesse daran hat, sich stärker in der Nato und für die Abschreckung in Europa zu engagieren.
Nichts deutet darauf hin, dass er seine Linie ändert. Trump sieht die Europäer
stärker in der Pflicht. Doch vielleicht kann Trump der Stationierung
weitreichender Waffensysteme in Deutschland doch etwas abgewinnen. Denn
schließlich ist der 78-Jährige auch jemand, der gerne die Muskeln spielen lässt.

Für die Nato kann die Unberechenbarkeit Trumps sogar auch etwas Gutes haben
- denn auch Putin weiß letztendlich nicht, was ihn bei weiteren Provokationen
erwarten würde./cn/DP/stk

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