08.07.2024 09:15:49 - dpa-AFX: WDH/ROUNDUP: Pistorius vor Nato-Gipfel verärgert über geringen Wehretat

(Rechtschreibfehler im 4. Absatz, 5. Satz korrigiert: "... und das zu Recht"
(nicht: "zurecht").)

FAIRBANKS (dpa-AFX) - Verteidigungsminister Boris Pistorius hat sich vor dem Nato-Gipfel zur gewachsenen Verantwortung Deutschlands für die Verteidigung im
Bündnis bekannt. In seiner ersten öffentlichen Äußerung seit dem
Haushaltskompromiss der Ampel-Spitzen ließ der SPD-Politiker zugleich Unmut über
die Folgen der Einigung erkennen. "Ja, ich habe deutlich weniger bekommen, als
ich angemeldet habe. Das ist ärgerlich für mich, weil ich bestimmte Dinge dann
nicht in der Geschwindigkeit anstoßen kann, wie es Zeitenwende und
Bedrohungslage erforderlich machen", sagte Pistorius, der in Fairbanks in Alaska
die Übung Arctic Defender 2024 besuchte. Pistorius sagte: "Wir werden sehen, was
sich in den nächsten Wochen und Monaten weiter ergibt. Ich muss mich darauf
einstellen und das Beste daraus machen."

Unter deutscher Führung trainieren Kampfpiloten aus mehreren Staaten
gemeinsam mit den USA Luftkriegsoperationen unter Nato-Standards. Angenommen
wird der Bündnisfall ("Artikel 5"), bei dem ein Angriff auf einen oder mehrere
Verbündete gemeinsam abgewehrt wird. An der Übung sind etwa 60 Kampfjets sowie
weitere Tankflugzeuge, Transporter und Hubschrauber beteiligt. Sie üben die
Zerstörung der gegnerischen Luftverteidigung sowie den Kampf gegen
Luftstreitkräfte und die Zerstörung von Kommandozentralen. Es wurden der
Tiefstflug auf einer Höhe von nur etwa 30 Meter - möglichst unter gegnerischem
Radar - sowie der Abwurf von Präzisionsbomben trainiert. In Alaska steht dafür
eine Fläche wenig kleiner als die alte Bundesrepublik zur Verfügung.

"Wir Europäer übernehmen Verantwortung für die Sicherheit und die
Verteidigung Europas innerhalb des Nato-Bündnisses", sagte Pistorius, der von
einem klaren Signal sprach, das für Deutschland in besonderer Weise gelte. Dabei
habe man die Bedrohung im gesamten Bündnisgebiet im Auge, nicht nur in Europa,
sondern auch in der Arktis, die von wachsender geostrategischer Bedeutung im
Umgang mit Russland und der von Russland ausgehenden Bedrohung sei.

Fähigkeiten zur Abschreckung ausbauen

Bei dem am Dienstag beginnenden Nato-Gipfel gehe es darum, die Fähigkeiten
zur Verteidigung und zur Abschreckung weiter auszubauen, sagte der Minister. Er
kündigte mehrere deutsche Schritte an, die der Militärhilfe für die Ukraine
dienen sollen. So werde Deutschland noch in diesem Jahr 10.000 Schuss
Artilleriemunition aus der tschechischen Munitionsinitiative für die Ukraine
finanzieren und bereitstellen. "Und wir werden in Washington eine
Drohnen-Initiative vorstellen, die unseren Partnern eine Grundlage schafft für
die gemeinsame Beschaffung von Drohnen jeglicher Art aus deutscher Produktion
für die ukrainischen Streitkräfte", sagte Pistorius. Und: "Von Deutschland wird
viel erwartet und das zu Recht. Wir sind die größte Volkswirtschaft in Europa,
der größte Nato-Alliierte in Europa. Von daher haben wir eine besondere
Verantwortung zu übernehmen und tun das auch."

Der Nato-Gipfel mit Feierlichkeiten zum 75. Jubiläum des
Verteidigungsbündnisses beginnt am Dienstag in Washington. Er findet in Phase
politischer Unsicherheit statt, nachdem die Eignung von US-Präsident Joe Biden
als Präsidentschaftskandidat öffentlich angezweifelt wird. Unklar ist, wohin die
USA steuern, wenn der frühere US-Präsidenten Donald Trump bei der US-Wahl im
November wieder ins Amt kommt. Er hatte zeitweise sogar mit einem Austritt der
USA aus dem Bündnis gedroht und insbesondere Deutschland kritisiert.

In der vergangenen Woche hatten die Spitzen der Ampel-Koalition der
Bundeswehr für das kommende Jahr einen Zuwachs im regulären Wehretat von 1,2
Milliarden Euro zugebilligt. Pistorius hatte 6,5 bis 7 Milliarden Euro
Zusatzbedarf für das kommende Jahr angemeldet und auf anstehende
Rüstungsprojekte sowie steigende Betriebskosten verwiesen. Der
Bundeswehrverband, Interessenvertretung der Soldaten und Beschäftigten des
Militärs, kritisierte die Unterdeckung scharf. Der Vorsitzende André Wüstner:
"Die Truppe ist verwundert, größtenteils schockiert."

Die Bundesregierung hatte sich bereiterklärt, eine militärische
Führungsrolle zu übernehmen. Die Stationierung der Brigade Litauen, die bis 2027
mit 5000 Soldaten in dem Land an der östlichen Nato-Flanke einsatzfähig sein
soll, ist ein sichtbares Zeichen, Waffenbestellungen im Umfang von 100
Milliarden Euro ("Sondervermögen") ein weiteres Signal. Wie auch die von
Deutschland angestoßene Initiative für ein europäisches Luftverteidigungssystem
(European Sky Shield Initiative/ESSI), eine Konsequenz aus dem russischen
Angriffskrieg gegen die Ukraine. Inzwischen sind dort 21 Staaten eingebunden,
mit Österreich und der Schweiz - früher kaum denkbar - gar zwei Staaten, die
nicht der Nato angehören.

Nato-General: Deutschland könnte wesentlich stärkere Akzente setzen

Nur, wie geht es weiter? Für die überarbeiteten Verteidigungspläne der Nato
sind wohl mehr als 70 000 Soldaten zusätzlich zu den aktuell etwa 181 000
Männern und Frauen nötig. Pistorius selbst sagte bei der Vorstellung seines
Wehrdienstmodells im Juni auch: "Wir brauchen nach Einschätzung der Bundeswehr
und der Nato rund 200 000 Reservisten mehr. Das heißt, wir reden über dann
insgesamt rund 460 000 Soldatinnen und Soldaten".

Der höchste deutsche Nato-General, Christian Badia, machte Ende Juni in der
"Welt" deutlich, dass Deutschland "wesentlich stärkere Akzente" setzen könne.
Deutschland sei aufgrund seiner Beiträge nach den USA der zweitwichtigste
Mitgliedstaat der Nato. Der Nato-Befehlshaber in Europa, US-General Christopher
Cavoli, habe Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) bei einem Treffen in Berlin die
neuen Verteidigungs- und Operationspläne erläutert: "Das Mehr an nötigen
Fähigkeiten, deren Flexibilität - und die dafür nötige, nachhaltige Finanzierung
insbesondere durch die großen Nationen. Denn nur so ist sichergestellt, dass er
als militärischer Oberbefehlshaber seinen Auftrag ausführen kann." Badia warnte:
"Es reicht nicht zu sagen: Wir haben doch die zwei Prozent erreicht."/cn/DP/zb

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